Hong Kong besitzt einen eher kleinen Zoologischen Garten, der auf einem Berghang ruht; darin eine übersichtliche Zahl unterschiedlicher Tiere und die Abwesenheit von jeglicher Sensation.
In einem Open-Air-Käfig lebt ein Orang-Utan der so alt ist, dass er wahrscheinlich schon auf diesem Berghang saß, als die Briten die Insel in Besitz nahmen und in deren Norden, an einer felsigen Küste, die nicht so Malariamücken-verseucht war wie ihr erster Siedlungsort im heutigen Stadtteil Happy Valley, eine Siedlung gründeten, die sie in einer Kombination aus vollendeter Phantasielosigkeit und royalistischer Devotheit „Victoria Town“ nannten, so wie Briten damals ungefähr alles „Victoria“ nannte, was sie entdeckten, eroberten oder gebärten.
176 Jahre später heißt der Ort nicht mehr Victoria Town, die Queen heißt auch nicht mehr Victoria, die Briten haben kein Imperium und keine Mitgliedschaft im vereinten Europa mehr. Hong Kong ist sei 20 Jahren irgendwie ein Teil Chinas und dieses „irgendwie“ wird in spätestens 30 Jahren ganz verschwunden sein, höchstwahrscheinlich schon viel früher.
Der alte Orang Utan sitzt immer an der gleichen Stelle. Ich habe mir vorgestellt, dass irgendein pfiffiger Brite, der damals seine Queen Victoria beeindrucken wollte, rund um den bewegungslos am Berghang sitzenden Orang Utan herum erst einen hohen Käfig bauen ließ, und danach einen kleineren Zoologischen Garten, in den er schnell noch allerlei Getier einpflanzte, damit er eine stolze Depesche nach Windsor schicken konnten: „Meine Königin! Ich melde ergebens: Diese tropische Insel, die wir uns aneigneten, als Kriegsgewinn der Auseinandersetzungen mit China, das ja mit unserer Rolle als dortiger Drogenimporteur und Dealer schwerster, illegaler Suchtmittel aus uns unverständlichen Gründen ein wenig unglücklich war und deswegen den so genannten Opiumkrig gegen uns führte und verlor, diese Insel hat jetzt einen eigenen Zoo und einen Affen. Ist das nicht famos? Nur dass Sie Bescheid wissen, Mylady, falls Sie mal in der Gegend sind. Mit ergebensten Niederwerfungen, Lord Dings.“
Der alte Orang-Utan ist im Sitzen ungefähr so groß wie ich im Stehen, und ich bin groß im Stehen. Ich weiß nicht, wie viel er wiegt, aber er scheint mir eine absurd große Masse zu besitzen. Vermutlich könnte er ein Auto einfach platt sitzen oder ein Haus. Man könnte, nein, man müsste als Angehöriger der zerbrechlichen, schwächlichen Affenart Homo Sapiens eigentlich Angst haben vor diesem Koloss aus Muskeln, Fleisch und Fell. Aber ohne eigentlich dann doch nicht, denn er ist das traurigste Wesen der Welt.
Der alte Orang-Utan ist nicht einfach nur antriebsarm und lustlos wie viele Zootiere, er ist auch nicht einfach nur träge und gelangweilt wie noch mehr Zootiere. Dieser Orang-Utan hat die Traurigkeit aller Lebewesen des Universums auf sich genommen. Ich bin nicht religiös, und ich habe das Konzept, Jesus sei für unser aller Sünden gestorben, sogar dann, wenn wir zum Zeitpunkt seiner Ermordung noch gar nicht geboren und unsere Sünden somit auch noch gar nicht begangen waren, schon als Zehnjähriger als irrationalen Unfug abgelehnt. Aber die Theorie, in diesem Orang-Utan wohne gesammelt und verdichtet alle Betrübnis, alle Bedrücktheit, alle Düsternis, aller Jammer und alle Todessehnsucht aller Menschen, Tiere und Außerirdischen; und alles, was sie selbst in dieser Richtung verspürten, seien nur noch ein paar düster gesprenkelte Reste, die der Affe aus irgendwelchen Gründen – bisschen Schwund ist ja immer – nicht einsammeln konnte, erscheint mir hingegen durch und durch plausibel.
Der alte Orang-Utan sitzt und rührt sich nicht und schaut durch Gegenstände und Menschen hindurch. Er sieht durch die Fotografen hindurch, die ihm zuwinken. Er sieht durch die männlichen Teenager hindurch, die vor ihm herumspringen und Affen imitieren, dabei Geräuschen erzeugen, wie rechtsradikale Fußballfans sie in Fußballstadien ausstoßen wenn der gegnerische Spieler am Ball ein Schwarzer ist. Er sieht durch die Kinder hindurch, die versuchen, ihn mit Gegenständen zu bewerfen, aus dieser speziellen Sorte Grausamkeit heraus, die nur in Kindern wohnt.
Einmal, vor Jahren, sah er auch durch mich hindurch, auf irgend etwas, das mindestens kilometerweit hinter mir gewesen sein muss. Ich war in Gedanken bei dem Fotoapparat in meiner Hand, überlegte, ob sich vielleicht ein Objektivwechsel lohnen würde für ein Bild von diesem haarigen Muskel- und Fleischberg, oder ob das Motiv überhaupt etwas tauge, denn schließlich gibt es ja schon mehr als genügend Fotos von irgendwelchen Affen in irgendwelchen Zoos irgendwo auf der Welt.
Da sah er mich an, verschob den Fokus seines Blickes vom Irgendwo aufs hier, auf genau meine Netzhaut, von unendlich auf unendlich nah. Für die kürzestmögliche Zeitspanne, die unser Affenhirn erfassen kann, sah ich in dieses Schwarze Loch der Hoffnungslosigkeit, in diese endgültige Traurigkeitssingularität. Für diesen kurzen Moment gab es keine Freude mehr und keine Hoffnung, und es würde sie nie wieder geben, nirgendwo. Dann schaute er wieder ins Leere, entließ mich aus dem dunklen Schwerefeld. Schon nach ein paar Stunden konnte ich wieder ruhig atmen.
Seitdem besuche ich den alten Orang-Utan jedes Mal wenn ich in Hong Kong bin. Ich hoffe auf dem Weg in den Zoo immer leise, ein geschlossenes Gehege vorzufinden, mit einem Schild daran, auf Kantonesisch und auf Englisch, welches sehr bedauert, dass der alte Orang-Utan kürzlich gestorben sei, wo ihn doch alle Besucher so lieb gehabt hätten, die Teenager und die Kinder und Lord Dings und irgendwas mit Volksrepublik China Hurra, und vielleicht kommen ja irgendwann Pandabären, das wäre doch eine Sensation und bla.
Ich habe heute wieder nachgesehen. Der alte Orang-Utan lebt und das womöglich noch tausend Millionen Jahre.
Er hat mich nie wieder angesehen.
Ich habe ihn nie fotografiert.
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