„Wahrscheinlich eine Kurzschlusshandlung“, sagt Tante Lisbeth und schiebt mit ihrer Gabel die Streuselkuchenüberreste auf ihrem Teller zu einem Häufchen zusammen.
„Kurzschlusshandlung“. Das Wort kenne ich nicht, aber es fasziniert mich. Es ist gar kein Wort, es ist ein Kurzfilm. Ich sehe einen Mann vor mir, aus dessen Schädel Funken und Blitze schlagen. Etwas ist in seinem Kopf kaputt gegangen, vielleicht ist die Sicherung durchgebrannt. Kurzschluss eben. Der Mann mit dem funkensprühenden Kopf drückt auf einen Schalter und – Schnitt im Kopfkino auf eine lautlose Atomexplosion, die den ganzen Planeten zu einer riesigen Pilzwolke verdampft. Huch! Das wollte der Mann gar nicht! Ihm ist doch nur etwas durchgebrannt. Nur deshalb hat er auf den Knopf gedrückt. Eine Kurzschlusshandlung eben. Aber jetzt ist die Erde kaputt, und alle sind tot. Ende des Kurzfilms.
Es ist 1976. Ich bin elf Jahre alt, und ich sitze mit meiner Mutter und mit ein paar Tanten und Onkeln im Hinterzimmer eines Cafés. Vor einer Stunde haben wir meinen Vater beerdigt. Tante Lisbeth entdeckt immer wieder neue Krümel auf ihrem Teller, die sie in Richtung ihrer Streuselhalde schiebt.
Ich bin sieben Jahre alt, als meine Mutter mich zum ersten Mal meinem Vater hinterher schickt. Sie haben sich gestritten, im Nebenzimmer. Ich höre, wie er geht, die Wohnungstür hinter sich zuzieht. Meine Mutter kommt ins Kinderzimmer und sieht mich an.
„Lauf Deinem Vater hinterher und hol ihn zurück.“
Ich schaue sie verunsichert an, während sie mich in meine Jacke steckt.
„Sag ihm, er soll nach Hause kommen.“
Ich renne die Straße entlang und finde meinen Vater. Er geht langsam, schaut auf den Boden, sieht mich, erkennt mich.
„Komm nach Hause“, sage ich, wie meine Mutter es mir aufgetragen hat.
Er steht nur da und sieht mich an.
Ich greife mit meiner kleinen Hand seine große und ziehe daran. Er gibt nach und bewegt sich. Schweigend gehen wir nach Hause. Hand in Hand. An diesem Abend streiten sie nicht mehr.
Tante Lisbeth ist mit den Krümeln fertig. Ihr Teller sieht aus wie frisch gespült, abgesehen von dem kunstvoll aufgeschichteten Streuselhäufchen.
Das zweite Mal gleicht dem ersten: streitende Eltern, ein mit Türschlagen die Wohnung verlassender Vater, meine Mutter, die mir den Rückholbefehl gibt, ich, der ich den Vater zurück in die Wohnung ziehe, gefolgt von einem relativ ruhigen Abend.
Es dauert ein paar Jahre und ein paar Dutzend Vaterrückholrituale, bis ich den Sinn dieses Spiels zumindest teilweise begreife. Mein Vater verlässt die Wohnung nicht einfach nur so, er kündigt an, sich umzubringen. Meine Mutter will ihm dann nicht hinterher gehen. Vielleicht hat sie Angst, dass auf offener Straße ein Streit losbricht – was ihr vor den Nachbarn sicher peinlich wäre. Vielleicht fürchtet sie auch, sie könne ihn nicht zum Umkehren bewegen. Vielleicht ist es für sie auch einfach nur die bequemere Lösung, mich zu schicken. Und es funktioniert ja auch. Jedes Mal.
Einmal auf der Straße sagt er etwas zu mir. Ganz leise: „Ich kann nicht mehr“. Für einen Moment begreife ich, wie tief seine Traurigkeit ist, wie groß sein Schmerz sein muss. Ich erschrecke. Später weine ich.
Auch meine Mutter kann nicht mehr. Sie schickt mich ihm nicht mehr nach, wenn er droht, sich umzubringen und dann weggeht. Auch ich will nicht mehr. Ich gehe ihm nicht mehr hinterher.
Er kommt dann immer spät in der Nacht nach Hause, betrunken zwar, aber immerhin. Geht also auch ohne mich, denke ich. Letzte Woche kam er nicht mehr zurück.
Tante Lisbeth legt ein neues Stück Kuchen direkt neben den Krümelberg auf ihrem Teller. „Ja“, sagt sie bekräftigend, „es war wohl eine Kurzschlusshandlung.“
Erschienen in »Tausend Tode schreiben«, im Frohmann Verlag,
erhältlich bei minimore.de als DRM-freies eBook oder bei Amazon als Kindle-Edition.
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